Virtuoser Gang

 

Im Großen Schrammtor legen Touristen den Kopf in den Nacken und verrenken sich die Hälse. Vom Gipfel des Schrammtorwächters wird ein Seil über dessen Nordwand herunter gelassen.

„Was machen die denn da?“, fragt ein älteres Ehepaar.

„Wir spannen ein Seil zwischen den Gipfeln und wollen dann darüber balancieren.“

„Ja, ja, ihr könnt uns ja viel erzählen - April, April.“

Zwischen Südlichem Osterturm und Schrammtorwächter befestigen Kletterer ein schmales Band, ein Himmelsband, eine Schnur im Nichts. Das Ziel ist, balancierend darüber entlang zu gehen. Ungläubig gehen die Touristen weiter.

Das Landcruising-Team aus Dresden, eine eingeschworene Gemeinschaft von ungefähr 10 jungen Leuten, ist in Aktion. Es sind alles Kletterer, die hauptsächlich im Elbsandsteingebirge unterwegs sind. Ihr zweites Hobby neben dem Bergsteigen ist das Slagleinen (slag, engl. = schlaff – bezeichnet das lose gespannte Band). Vielfach in Parks und auf Spielplätzen sieht man diese Bänder, kurz überm Boden gespannt. Das Balancieren, es schult die Körperkoordination und Konzentration, ist ein Modetrend. Spannt man nun solche Bänder in größeren Höhen, nennt man sie  Highlines (high, engl. =  hoch).

Das Erkennen und Auskundschaften der Möglichkeiten für eine Highline, der logistische Aufwand beim Aufbau, die Konstruktion der Befestigung an den Gipfeln in der Sächsischen Schweiz ist enorm. Cirka 4 Stunden hat es gedauert, bis die Strecke zwischen Südlichem Osterturm und Schrammtorwächter eingerichtet ist. Dabei legen die Landcruiser viel Wert auf eine absolut felsschonende Installation. Alle Befestigungsschlingen sind mit Schutzmänteln und Decken abgepolstert. Auch werden Sicherungsringe und Abseilösen an den Gipfel nicht belastet. Die sächsische Ethik, die beim Klettern gilt, hat sich das Team auch beim Highlinen auf die Fahnen geschrieben. Tabu sind zum Beispiel Strecken zu Klettergipfeln von Felsriffen aus, die im Nationalpark aus Naturschutzgründen gesperrten sind. Gelaufen wird nur von eh frequentierten Aussichtspunkten aus, oder, wie hier im Schrammtor, zwischen zwei Gipfeln, ohne jedoch den normalen Kletterbetrieb zu beeinträchtigen.

Die Strecke übers Große Schrammtor ist das bisher anspruchsvollste Projekt des Landcruising-Teams in der Sächsischen Schweiz. 43 Meter misst die Distanz zwischen Südlichem Osterturm und Schrammtorwächter. 55 Meter über dem Boden verläuft die Linie.

Aber gleichfalls ist es auch die bisher schönste Highline, die die Mannschaft gemeistert hat. Atemberaubend ist der Blick übers weite Elbtal. Der Gipfel des Schrammtorwächters, matt angeleuchtet im letzten Tageslicht, übt eine faszinierende Anziehungskraft aus. Und unten ist die saugende, dunkle Tiefe des Schrammtors.

 

Foto und Text: Mike Jäger

 

Felix Maul balanciert vom Gipfel des Südlichen Osterturms zum Schrammtorwächter